Es war im Sommer 2001. Ich bekam einen Anruf aus meiner Heimat Türkei. Meine Schwester sagte am Telefon, dass meine Mutter in Ankara im Krankenhaus sei und in zehn Tagen am Herzen operiert würde. Ich rief daraufhin in einem Reisebüro an und buchte für den nächsten Tag einen Flug nach Ankara. Als ich in Ankara ankam, ging ich sofort meine Mutter im Krankenhaus besuchen. Ich teilte ihr mit, dass ich nur eine Woche freibekommen hatte und mir in der Nähe des Krankenhauses eine günstige Pension suchen möchte. Ich fand eine Pension in der Nähe, besuchte meine Mutter jeden Tag und traf auch meine Schwester und andere Verwandte. Ich kenne mich in Ankara nicht so gut aus, deswegen ging ich nach den täglichen Besuchen bei meiner Mutter zum Atatürk Park. Das ist ein großer, wunderschöner Park mitten in der Stadt mit viel Grün, Restaurants, Teehäusern und einem riesigen Teich. Ich ging dort meistens in ein Teehaus, trank Tee, aß manchmal auch eine Kleinigkeit. Vier Tage vor der Operation besuchte ich, wie jeden Tag, meine Mutter. Sie war sehr nervös. Ich versuchte, sie zu beruhigen und sagte, dass alles schon gut gehen würde. Nach dem Besuch ging ich, wie gewohnt, in den Atatürk Park. Diesmal entschied ich, statt ins Teehaus zu gehen, mich auf einer Bank direkt vor den Teich zu setzen. Ich las die Zeitung, die ich mir gerade gekauft hatte. Es war ein wunderschöner Sommertag und der Park war fast menschenleer. Als ich gerade in einen Artikel in der Zeitung vertieft war, hörte ich eine sanfte Stimme hinter mir: „Entschuldigen Sie?“ Ich drehte mich um und sah eine hübsche, sehr gepflegte Frau mit einem etwa vierjährigen Jungen an der Hand. Sie sagte: „Können Sie zwei Minuten auf meinen Sohn aufpassen? Ich muss nämlich dringend zur Toilette und er will nicht mitkommen.“ Ich sagte: „Okay, kein Problem, kann ich machen.“ Die öffentlichen Toiletten waren direkt hinter meiner Bank. Sie bedankte sich, drückte das Kind in meine Hand und ging. Ich erfuhr von dem Kind, dass es Ali hieß. Ali war ein sehr süßes Kind, hatte dichte schwarze Haare, große, dunkle Augen und ein freches, sympathisches Lächeln. Ich spielte mit Ali ein bisschen Fangen. Dann kam ein Eiswagen und wir holten Eis, setzten uns auf die Bank, aßen unser Eis und hatten Spaß miteinander. Aber plötzlich merkte ich, dass die Mutter von Ali fast eine halbe Stunde weg war. Ich dachte mir aber nichts dabei, es konnten ja irgendwelche Verdauungsstörungen sein. Aber als aus der halben Stunde eine ganze Stunde wurde, wurde ich langsam nervös. Ich guckte in Richtung Toiletten, aber sah niemanden, dann sagte ich zu Ali, dass er reingehen und nach Mama rufen solle. Er zuckte nur mit den Achseln. Mir wurde es langsam unangenehm. Ich rief selbst von der Tür aus in die Damentoilette: „Hallo, ist da Alis Mutter?“ Keine Antwort. Dann forderte ich Ali auf, reinzugehen. Er zuckte wieder mit den Achseln. Ich wusste nicht, was er damit meinte. Meinte er, dass er nicht reingehen wollte, oder dass er mich nicht versteht? Was auch immer. Nach einer Weile, ich mit Ali an der Hand vor dem Damen Klo, kam eine Frau und wollte aufs Klo gehen. Ich bat sie darum, dass sie mal reinschaut, ob überhaupt jemand drin ist, denn es sah sehr leer aus. Sie kam nach zwei Minuten und sagte, dass außer ihr niemand drin sei. Ich war schockiert. Ich hatte mit allem gerechnet, dass sie ohnmächtig geworden ist, dass sie überfallen worden sein könnte, aber dass sie überhaupt nicht da ist, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich guckte zu Ali, der hielt meine Hand fest und sah sehr zufrieden aus. In diesem Moment wusste ich nicht, was mit mir geschah. Ich war wie eingefroren und hatte große Bedürfnis nach MAMAAA zu rufen. Dann fiel mir meine Mutter ein. Ich wollte meine Mutter nicht mit so etwas belästigen, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sonst machen sollte, denn die Türkei, Ankara war für mich wie ein fremdes Land. Also ging ich zu Mama. Sie war überrascht, als sie mich mit einem Kind sah, aber ihr Gesichtsausdruck sagte mir: „Du hast dich von jemandem verarschen lassen.“ Ich erzählte meiner Mutter die ganze Geschichte. Sie sagte: „So was konnte ja auch nur dir passieren.“ Auch sie versuchte, Ali zu fragen, wo er wohnt, wie die Mama heißt usw. Aber von Ali kam nichts. Er saß sehr zufrieden neben mir, und kaute mit großem Appetit einen Sesamring, den ich ihm unterwegs gekauft hatte. Meine Mutter sagte zu mir, dass ich zur Polizei gehen sollte, aber ich entdeckte dabei – oder bildete ich mir das ein- ihren mitleidsvollen Augenausdruck. Also, ich nahm Ali an die Hand, der ließ meine Hand die ganze Zeit nicht los, und ging zur nächsten Polizeistation. Ich ging mit ihm rein und erzählte dem ersten Polizisten, den ich sah, meine Geschichte. Er brachte mich zum Hauptkommissar. Auch ihm erzählte ich die Geschichte ganz aufwändig. Er hörte mir ganz ruhig zu und hatte so einen Gesichtsausdruck, dass man nicht wusste was in ihm vorging. Nachdem ich fertig war, stand er ganz langsam auf, kam zu mir und sagte, dass ich aufstehen sollte. Ich stand auf, er war einen Kopf kleiner als ich, versuchte aber, mir direkt in die Augen zu sehen. Als ich rätselte, was denn jetzt sei, gab er mir eine kräftige Ohrfeige, so dass ich die gesamten Sterne unseres Sonnensystems vor mir sah. Ich war schockiert und gab mir große Mühe, nicht zurückzuschlagen. Als ich noch mit mir kämpfte, sagte mir dieser Giftzwerg, für wen ich mich wohl halten würde. Weil ich in Deutschland lebe, sollte ich nicht glauben, dass ich hier alles machen kann, was ich will. Es sei immer dasselbe mit uns Deutschländern, wir kommen hierher, machen unschuldige türkische Mädchen an, schwängern sie und hauen nach Deutschland ab. Er sagte noch jede Menge. Ich konnte ihm nicht mehr zuhören, ich zweifelte, ob ich wirklich in dieser Situation drin bin oder ob ich sie träume. Also, der dicke Hauptkommissar schmiss mich raus. Ali sah aus, als ob er von der ganzen Sache gar nicht beeindruckt wäre. Er hielt meine Hand ganz fest und hatte immer noch einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck. Ich muss zugeben, in diesem Moment dachte ich für einen Augenblick, ich sollte Ali einfach loslassen und ganz schnell weglaufen. Aber das konnte ich nicht. Irgendwie tat er mir leid. Und er war mir als Herz gewachsen. Ich dachte, es muss doch in dieser verdammten Stadt möglich sein, die Mutter dieses Kindes zu finden. Aber wie finde ich eine offizielle Stelle, die mir vernünftig zuhört und mir glaubt. Ich hatte ja bei der Polizei eine schreckliche Erfahrung gemacht. Mit sämtlichen Gedanken im Kopf und halb deprimiert lief ich in der Stadt ziellos hin und her. Ali ließ meine Hand keine Minute los. Ich habe ernsthaft daran gedacht, den Jungen nach Deutschland mitzubringen, aber gleich war mir klar, dass das absolut unmöglich war. Wegen des Jungen, den niemand haben wollte, konnte ich wegen Kindesentführung im Knast landen und das konnte weder mir noch Ali etwas nützen. Plötzlich fiel mir ein, dass Ali hungrig sein könnte. Ich hatte morgens früh, bevor ich meine Mutter besuchte, eine Scheibe Brot mit Schafskäse und schwarzem Tee gefrühstückt.. Aber mir war der Appetit vergangen. Ich spürte nur Wut, Angst und Verzweiflung und keinen Hunger. Also ging ich mit Ali in einen Imbiss. Ali aß und trank etwas und wir gingen wieder. Ich wollte nicht unbedingt wieder zu meiner Mutter gehen, weil sie ja wegen ihrer O.P. genug zu kämpfen hatte. Wieder ziellos, Ali an der Hand, lief ich durch die Gegend. Irgendwann merkte ich, dass ich in der Nähe dieser Polizeistation war, wo ich diese kräftige Ohrfeige gekriegt hatte. So wusste ich wo ich mich ungefähr befand. Ich merkte plötzlich, wie müde meine Beine waren. Der arme Ali musste ja total fertig sein vor Müdigkeit. Aber dieses Kind war irgendwie ein Wunder der Natur. Kein Meckern, kein Hunger, keine Müdigkeit, kein Verlangen nach Mama. Nichts! Man hätte denken können, er wäre das glücklichste Kind der Welt. Hauptsache, ich war bei ihm. So ein Grinsen hatte er im Gesicht, die ganze Zeit. Ich entschloss mich, wieder zum Atatürk-Park zu gehen. Vielleicht hatte ich insgeheim die Hoffnung, dass ich dort diese Frau nochmals treffen konnte. Ich bog um die Ecke nach rechts zur Hauptstraße, lief ein paar Schritte und etwa zwanzig bis dreißig Schritte vor mir sah ich eine Frau von hinten, die wie Alis Mama aussah. Ich hatte ja ihre Klamotten nicht so genau beachtet, aber ich glaubte zu wissen, dass sie dieselben Klamotten wie Alis fragliche Mama anhatte. Und die Haare, dieselbe Haarfarbe, dieselbe Haarlänge, also das musste sie sein. Ich hielt Alis Hand noch fester und fing an, hinter ihr herzulaufen. Als ich zwei bis drei Schritte von ihr entfernt war, rief ich ihr zu: „Hallo, halten Sie mal an.“ Sie drehte sich um und als sie mich sah, begann sie zu rennen. Es war aber zu spät. Ich war schon sehr nah und konnte sie schnappen. Ich hielt sie an ihrem Arm ganz fest. Das muss ein total komisches Bild gewesen sein: Mit einer Hand hielt ich die Frau fest und mit der anderen Hand Ali – ich in der Mitte. Ich sagte zu der Frau, dass sie endlich ihr Kind nehmen soll. Sie sagte, dass sie mich nicht kennt. Ich solle sie in Ruhe lassen. Sie kenne weder das Kind noch mich. Sonst riefe sie die Polizei. Ich war wütend. Und ohne zu wollen, fing ich an zu schreien. Es kam zu Handgreiflichkeiten, weil sie sich losreißen und weglaufen wollte. In diesem Moment kamen zwei Polizisten und fragten, was los sei. Ich erklärte soweit ich konnte, denn ich konnte vor Wut nicht mehr richtig reden, was los war. Ich nehme an, sie verstanden mich nicht genau. Die Frau sagte das übliche, dass sie mich und das Kind nicht kennt, dass ich sie belästige usw. Die Polizisten nahmen uns drei mit zur Polizei und Ali hielt immer noch ganz fest meine Hand. Wir kamen schon wieder zu dem Polizeirevier, wo ich heute, vor ein paar Stunden mit Ali war. Sie brachten uns zum Hauptkommissar und ich stand schon wieder vor diesem Giftzwerg, der mich geohrfeigt hatte. Er guckte mich wie ein Ekelpaket an und sagte: „Schon wieder du“. Und die Frau fing an zu reden. Aber der Giftzwerg unterbrach sie und forderte mich und Ali auf, draußen zu warten. Ich ging, mit Ali an der Hand, raus. Wir setzten uns auf die Bank und warteten. Der Kommissar bestellte für die Frau und für sich Cola, Fanta usw. Ich merkte es, als ein Polizist mit dem vollen Tablett reinging. Wir warteten mindestens dreiviertel Stunde, keiner rief uns. Ich weiß nicht, was in dieser Zeit in dem Zimmer passierte. Endlich, irgendwann, rief uns der Giftzwerg rein. Drinnen standen wir alle auf. Der Zwerg sagte, dass er die ganze Geschichte schon von dieser „Dame“ gehört habe und dass ich seine Meinung darüber schon kenne. Ich sagte nur: „Und jetzt?“ Er sagte, es gebe nur eins zu machen. Ich daraufhin, was es denn sei. Der Giftzwerg machte eine ernsthaftes, nachdenkliches Gesicht, überlegte ein bisschen und sagte: Du gehst in diese Ecke des Büros, sie geht in die gegenüberliegende Ecke. Wir lassen das Kind in der Mitte los und werden sehen, zu wem dieses Kind hingeht. Ich sagte, dass dies keine Methode sei, dass es bestimmt sicherere Methoden gebe herauszukriegen, zu wem dieses arme Kind gehöre. Daraufhin sagte der Zwerg ganz weise:“ Mein Sohn, ein Kind wird niemals seine Mutter verleugnen.“ Ich dachte: So was kann es nur in meiner Heimat geben. Ich stand unter Druck und hatte in diesem Moment keine andere Wahl, als diesen lächerlichen Test mitzumachen. Also, ich in die eine Ecke, die Frau in die andere. Der Kommissar nahm das Kind von meiner Hand weg und brachte es in unsere Mitte, dann ließ er seine Hand los. Und zu wem läuft Ali? Richtig: zu mir, ohne zu zögern. Der Giftzwerg guckte mich allwissend an und sagte: „Siehst du, der weiß zu wem er gehört. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit meinen Mund aufzumachen. Er hielt meinen Arm fest und schmiss mich und Ali, der ja immer noch meine Hand ganz fest hielt, nach draußen. Vor dem Polizeirevier begann ich vor Wut zu weinen. Der arme Ali, wo ich da so hockte und weinte. Er versuchte, mich zu trösten, indem er meine Haare sehr sanft streichelte. Ich richtete mich wieder auf und hatte nur einen Gedanken im Kopf: Rache und Gerechtigkeit. Ich entschloss mich, so lange zu warten, bis diese schreckliche Frau rauskam und versteckte mich in einer schattigen Baustelle mit Ali, von wo ich den Eingang des Polizeireviers sehen konnte. Ich und Ali warteten dort sehr lange. Gegenüber meinem Versteck gab es einen Kiosk. Da kaufte ich für mich und Ali ganz schnell was zu Trinken und ein paar Kekse. Ein Glück, dachte ich in diesem Moment, dass Ali ein zufriedenes Kind ist. Kein Meckern, kein Weinen, kein Mucks, gar nichts. Der machte mit mir alles mit, Hauptsache, er konnte meine Hand festhalten. Nach langer Zeit, auch das weiß ich nicht, was sie solange beim Kommissar gemacht hat, kam die Frau raus, die Treppe runter, drehte sich nach rechts und lief ganz gemütlich Richtung Hauptstraße. Ich wartete, bis sie auf die Hauptstraße kam. Dann lief ich mit Ali ganz schnell hinter ihr her. Und endlich erwischte ich sie vor einem Restaurant. Ich sagte zu ihr, dass sie ihr Kind nehmen soll. Sie sagte das übliche, dass sie mich und das Kind nicht kennt, dass ich sie in Ruhe lassen soll. Ich versuchte, ihre Hand zu schnappen. Ich wollte die Hand Alis einfach in ihre Hand drücken und schnell weglaufen. Aber sie hatte meine Absicht bemerkt und versteckte ihre Hände ganz geschickt vor mir. Ich konnte auch nicht so heftig reagieren, die Polizeiwache war ja nicht weit weg. Nach langem hin und her sagte sie zu mir: „Ich werde dir das Kind abnehmen, wenn du mir achttausend Euro gibst.“ Ich war wie von einer Kugel getroffen. Das ganze Theater war deswegen, alles wegen Geld?! Und das arme Kind. Wurde er für diesen Zweck ausgenutzt. Das war mir zu viel. Ich ließ Ali los, hielt die Frau an ihren langen Haaren fest und schlug auf ihr Gesicht: von links, von rechts, mitten in die Kissen, linke Seite vom Plumeau, rechte Seite von der Matratze, dann hörte ich meine Mutter rufen und mich schütteln. Sie sagte: „Hakki, steh auf, um Gottes Willen, du hast einen Albtraum.“ Und was für einen Albtraum. Ich sagte zu meiner Mutter. Mama, ich werde nie wieder, nie wieder bevor ich ins Bett gehe, so kräftig essen, bitte, bitte…. . Hey, ihr seid mir doch nicht böse, oder? Ich mache nur Spaß. Grüße euch alle
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